„‘Ferne Ziele‘ ist kein Buch über Tangerine Dream, über Klaus Schulze oder über Ash Ra Tempel. Aber es ist ein Buch mit ihnen und dem, was sie auch mit Hilfe von anderen erschaffen haben. Es ist ein Buch über die Berliner Schule für Elektronische Musik, diesem für mich wichtigstem Bestandteil des großen, aus Deutschland stammenden Krautrock-Universums, das unser Land in der ganzen Welt auf musikalische Weise bekannt gemacht hat und das auch heute noch so viele Menschen begeistert.“
Bernd Kistenmacher ist Musiker, der im Bereich der elektronisch-symphonischen Musik arbeitet. Er veröffentlichte zahlreiche Tonträger, konzertierte als Solist im In- und Ausland, konzipierte Musik für Planetarien. Kistenmacher ist ein Meister seines Fachs. Zudem ist der 1960 geborene Berliner Fachautor und nun eben – ganz aktuell – auch Historiker. Er hat sich auf Spurensuche begeben und akribisch nachgeforscht, wie das eigentlich mit der Elektronischen Musik begann. Und zwar in Berlin.
Im digitalen Zeitalter dieser Tage ist es kein Hexenwerk mehr, klanggewaltige Eskapaden und Exkursionen zu fabrizieren. Moderne Elektronische Musik ist heute allgegenwärtig; sie wird zur Untermalung von TV-Dokumentationen produziert, sie wird als Chill-Out-Musik gebraucht, sie unterstützt Dancefloor-Nummern in der Clubszene und so fort. Dass das nicht immer so war, und dass Elektronische Musik in ihren Anfängen, speziell in Berlin, eher aus der Improvisationskunst heraus und unter künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten komponiert, bzw. erzeugt wurde, das ist das Thema des üppigen und reich bebilderten Buches.
Auf 788 Seiten fächert Kistenmacher die Anfänge und die Entwicklungen auf, geht dabei mit Lust und Laune zur Sache. Es sind in erster Linie die sehr
ausführlichen Interviews mit den Menschen vor und hinter den (nicht nur) Berliner Kulissen, die das Bild einer ungemein kreativen Zeit von den 1960ern bis zum Ende der 1980er zeichnen. Zu Wort
kommen Menschen wie die Musiker Lutz „Lüül“ Ulbrich (Agitation Free), Ax Genrich, Manuel Göttsching, Michael Hoenig, Stephan Kaske, Harald Grosskopf oder Conrad Schnitzler. Menschen wie Dieter
Dierks (Produzent) oder Wolfgang Palm (Entwickler). Menschen wie Thomas Kessler, der 1965 zunächst sein eigenes Studio für Elektronische Musik in Berlin gründete und später dann das Electronic
Beat Studio, das sich als Keimzelle für Neue Musik, Minimal Music, Improvisation und synthetische Klangerzeugung etablierte.
„Es gab diese Leute, diese Techniker, diese Künstler und Ingenieure, all diese Verrückten, die mit bürgerlichen Konventionen nichts am Hut hatten und die der Spießigkeit ihren nackten Hintern
zeigten. Es gab diese Leute, die vielleicht auch aus einem gewissen Mangel an Möglichkeiten oder aus Verzweiflung heraus etwas Neues wagten, die eine neue Musik erfanden, die völlig neue
Musikmaschinen bauten.Es waren diese Leute, die etwas Einmaliges geschaffen haben und die die wirklichen Wegbegleiter einer neuen Musik gewesen sind“, resümiert Kistenmacher.
Dass in den zahlreichen Geschichten neben Musik und Technik auch noch jede Menge anekdotische Momentaufnahmen jener Dekaden aus der einstigen Mauerstadt ihren Platz finden, macht das Buch zusätzlich zu einem unterhaltsamen und auf jeden Fall sehr lesenswerten Schmöker.
ps: Der Autor dieser Zeilen möchte es nicht unerwähnt lassen, dass er mit seinem Beitrag über die WDR-Rundfunk Legende Winfrid Trenkler ("Rock In", "Schwingungen") in "Ferne Ziele" vertreten ist. Das Interview stammt aus dem Jahr 1995 und erschien seinerzeit in dem Buch "Licht aus - Spot an" von Ulli Engelbrecht/Jürgen Boebers.
Weitere Informationen: www.edition-mahlstrom.de
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